Gottfried Rahn, Prausitz 30.12.1933
Die Kirchtürme von Pausitz und Jahnishausen
Seit Jahren bemühen die Aufsätze dieser Beilage dem Leser seine Heimat
nahe zu bringen. Ihre wichtigsten Quellen sind dabei die Aufzeichnungen
von der Hand gewissenhafter und schreibfreudiger Chronisten. Unsere
eifrigen Gesichtsforscher suchen sie aus Aktenstuben und Büchereien
hervor, stellen die wichtigsten Aussagen zusammen und machen es so jedem
möglich, einen Blick hinein zu tun in das Leben und Wirken unserer
Vorväter.
Nun legten aber unsere Ahnen ihr Wollen und Können keineswegs nur in
Chroniken und Briefen nieder. Ganz andersartige Urkunden sind uns aus
ihrem Leben erhalten. Diese Urkunden ragen groß und mächtig aus
unserer Heimaterde empor. Jeder, der offene Augen hat. muss sie sehen,
und dennoch laufen die meisten von uns an diesen Zeugen vorüber.
Ja, um etwas von ihnen zu erfahren - kramt man wieder in alten Büchern
und Bauakten. Von ihnen selbst aber etwas lernen zu können, das hält
man für unmöglich. Ich meine die Bauwerke der biederen Maurer- und
Zimmermeister vergangener Jahrhunderte, und unter ihnen vor allem die
Kirchen und Kirchtürme, die unsere Väter zur Ehre Gottes und zum
Schmuck ihres Dorfes erbauten. Warum bleiben denn diese Zeugen der
Vorzeit den meisten von uns gegenüber stumm? Weil wir ihre leise
Sprache nicht zu deuten wissen, weil wir in der Schule wohl lernten zu
entziffern, aber kein Lehrer uns beibrachte, den Sinn heimatlicher
Baudenkmäler zu enträtseln. Diese Zeilen wollen versuchen, an einem
besonders aufschlussreichen Beispiel die künstlerische Sprache
vernehmbar zu machen. In Pausitz und Jahnishausen stehen zwei alte
ehrwürdige Kirchen. Vor Jahren beschäftigte sich diese Beilage schon
mit ihrem Bauschicksal. Dort können wir nachlesen, wie im Jahre 1752 -
55 in Pausitz ein reicher Bauplan nur zum Teil ausgeführt wurde und wie
gerade der prächtige Entwurf für den Turm wegen Geldmangels fallen
gelassen werden musste. 1774 erhielt dann die Kirche den heutigen Turm
nach einem nicht enthaltenen Plan. Dort lesen wir auch, dass der
Gutsherr des benachbarten Jahnishausen etwa 20 Jahre später seine
baufällige Kapelle durch ein neues Gotteshaus ersetzte. Aber auch hier
wurde aus unbekannten Gründen der ursprüngliche Plan fallen gelassen
und das Kirchlein 1790 - 93 nach einem ebenfalls verschwundenen zweiten
Plan gebaut, der aber, im Gegensatz zu Pausitz, reicher gewesen sein
muss als der ursprüngliche. Dass bei diesem Bau die Pausitzer Kirche
als Vorbild gedient hat, ist urkundlich festgelegt. So lässt uns im
letzten Grunde der Chronik vollständig im Stich, wenn wir etwas
erfahren wollen über unsere beiden Kirchtürme, denn die beiden Pläne,
die im 37. Heft der beschreibenden Darstellung der älteren Bau- und
Kunstdenkmäler des Königsreichs Sachsen abgebildet sind, die haben
nichts Unmittelbares mit den bestehenden Türmen zu tun. Und das ist ein
Glück, denn nun müssen wir doch die Türme selbst genauer ansehen.
Mancher der Leser, den sein Sonntagsspaziergang schon oft an den beiden
Türmen vorübergeführt hat, wird auf einmal mit Erstaunen entdecken:
Die Türme gleichen sich ja wie Zwillinge! Bei beiden sind im
Glockengeschoss die vier Kanten abgeschrägt, bei beiden erhebt sich
über dieser achteckigen Grundlage eine Turmhaube aus gleichen
Baugliedern. Vier Hauptglieder fallen sofort ins Auge: die umgekehrte
Zuckertüte, der kleine Würfel unter ihr mit seinen schmalrunden
Fenstern an jeder Seite, die Halbkuppelkappe mit den vier Giebelfenstern
und schließlich der nach außen geschweifte Grundblock, in welchem vom
gemauerten Turm her sich flache Dreiecksgiebel hineinschieben. Kräftige
Simse trennen diese Hauptglieder. Sehen wie genauer hin, dann entdecken
wir noch eine weitgehende Übereinstimmung: bei beiden Türmen sind die
glatten Flächen der umkehrenden Zuckertüten an ihrem unteren Ende
gebrochen. Im Wellenschwung setzen die steilen Pyramiden auf dem Würfel
auf. Selbst die abschließende Kugel ist auf beiden Türmen da. Nur das
Pausitzer Turmkreuz ist in Jahnishausen durch eine Wetterfahne ersetzt.
Der Jahnishausener Zimmermeister, denn einfache Zimmerleute waren es,
die in jenen Jahren unsere schönsten Kirchtürme entwarfen und
ausführten, der scheute sich gar nicht, sich an ein Vorbild eng
anzuschließen, wenn es ihm nur recht gut gefiel. Obgleich er aber bis
in die letzte Einzelheiten hinein die Bauglieder dem Pausitzer Turm
entlehnte, so wurde sein Bau doch nicht eine geistlose Abschrift
desselben. Wir müssen uns schon einmal ein wenig länger vor die beiden
Türme stellen und müssen sie in ihrer ganzen Eigenart zu uns sprechen
lassen, um den Unterschied zwischen beiden in Worte zu fassen.
Der Pausitzer Turm steht frei auf einer Höhe. Wie ein trotziger
Wächter blickt er über die umgebenden Felder und Wiesenniederungen.
Unter seinem Schutz zieht sich die breite Landstrasse nach Riesa hin.
Diese alles überragende Einsamkeit hat sein Baumeister vorgeahnt.
Stiernackig und breitspurig hat er seinen Turm aufgebaut, gedrungen und
mit festen Quadermauern.
Wie ganz anders dehnt sich im Gegensatz zu ihm der Jahnishausener Turm
dem Himmel entgegen. Schlank ist sein Gemäuer, und wie ein dichtender
Träumer steht er mit blanken Augen in einem Tale, das schön ist, wie
ein Park mit seinen weiten Wiesen und aufstrebenden Bäumen an den Ufern
der vielverzweigten Jahna. Er braucht nicht ungehemmten Stürmen zu
trotzen, wie sein Pausitzer Bruder. Frohsinn soll er verkünden inmitten
einer fröhlichen Landschaft, "Schlosskapelle" soll er sein.
Mit erstaunlichem Feingefühl ist der Jahnishausener Meister dieser
veränderten Lebenslust gerecht geworden. Beinahe unmerklich hat er die
übernommenen Bauglieder umgeprägt und zu einem neuen Ganzen vereint
von durchaus selbständigen Charakter.
So sprechen die zwei Türme in ihrem Nebeneinander eine eindringliche
Sprache. Sie erzählen, wie unsere Väter in biederer Ehrlichkeit die
Herkunft ihrer Kunst bekennen. Sie erzählen aber auch, wie es ihrer
erdgebundenen Bildnerkraft gelang. die besondere Seele jedes Stückes
ihrer Heimat einzufangen in ihren Bauwerken. Wer auf einem besinnlichen
Sonntagsspaziergange diese Sprache der beiden Kirchtürme vernommen hat,
hat einen ersten Blick hineintun dürfen in jene Chronik, die unsere
Väter aus Steinquadern und Eichenbalken schrieben. Noch manches mal
wird es ihn hinziehen zu den Türmen, die auf einmal wie vom Tode
erwacht erscheinen. Wenn er so immer tiefer eindringt in die stumme
Bildsprache dieser Bauwerke, dann wird ihm eines Tages auch noch eine
zweite Absicht des Jahnishausener Meisters aufgehen. Er wird fühlen,
dass dessen Turmhaube irgendwie klarer und überzeugender ist und
schließlich wird er auch den Grund dazu entdecken. Am Anfang dieses
Aufsatzes zählten wir die vier Hauptbauglieder auf und stellten fest,
dass sie durch Simse voneinander getrennt seien. Das gilt nun nicht für
die Stelle, wo der kleine Würfel auf der Halbkugel aufsitzt. Und diese
Stelle ist es, die in Pausitz unklar bleibt. An einer unentschlossenen
Linie gleitet das Auge von der Würfelkante herab auf die Kante der
kugeligen Kappe, Der Jahnishausener Meister hat diese Schwäche getilgt.
So wie man den Sinn eines endlosen Satzes klärt, wenn man ihn
entschlossen durch einen Punkt in zwei kurze Sätze zerlegt, so hat er
die Kappe im kräftigen Bogen gerundet und darauf als ein Neues und
Selbständiges den Würfel mit der Pyramidenspitze gesetzt, Diese
liebevollere Durchgestaltung zeigt sich auch noch an der Spitze, wo die
Pyramide in Kugel und Wetterfahne ausläuft. Ein Einzelglied scheint aus
dem anderen hervorzuwachsen. Das ist in Pausitz anders. Dort steht der
Kreuzstab schlecht und recht auf der Turmspitze auf und die Kugel ist an
ihm befestigt, ohne dem Auge das Wohlgefallen zu bieten, was wir in
Jahnishausen empfinden. Ob diese Unebenheiten zu setzen sind. oder ob
sie schon ursprünglich vorhanden waren, das lässt sich natürlich
nicht feststellen. Diese Kritik an Einzelnem darf aber nie vergessen
machen, welche Kraft der Gestaltung aus den reichgegliederten Turmhauben
von Pausitz und Jahnishausen spricht. Wer sie recht unmittelbar spüren
will, der nehme, wenn er am Sonntagabend heimgekehrt ist, ein Blatt
Papier zur Hand und versuche die Jahnishausener Turmhaube
nachzugestalten. Ihm wird es kaum gelingen, die Mannigfaltigkeit der
Einzelheiten zu der vorbildlichen Einheit des Jahnishausener Turmes
zusammenzuzwingen. Aber erst wenn es ihm gelingt, kann er sich rühmen,
den Baugedanken dieses Turmes ganz verstanden zu haben, erst dann hat er
alles vernommen, was der schlichte Zimmermeister vor mehr als hundert
Jahren den Bürgern seiner Heimat hat sagen wollen.